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Wir stecken in einer Gewohnheitsfalle

Corona-Virus: Wir stecken in einer Gewohnheitsfalle

Bis zu 50% unseres all-täglichen Handelns basieren auf Gewohnheiten, die dabei nicht nur unser Verhalten, sondern auch unsere Sprach- und Denkgewohnheiten und unsere Herangehensweise an Probleme dominieren. Gewohnheiten stabilisieren uns einerseits und halten uns andererseits in unseren Wahrnehmungsmustern gefangen. Das Corona-Virus bedroht das Fundament, auf dem wir stehen und uns täglich bewegen: Unsere Gewohnheiten.

Wenn im menschlichen Erleben das sichere Fundament „Gewohnheit“ spürbar bröckelt, setzt der Ur-Instinkt Angst ein – so auch jetzt. Angst als Alarmzustand zum Überleben zwingt zu Konzentration und Fokus – der Tunnelblick ist die Konsequenz. Angst braucht – im Gegensatz zu Gewohnheiten – Energie, um diesen Alarmzustand aufrechtzuerhalten. Schon jetzt sehnen wir uns nicht nur zurück nach unserem alten Leben, sondern wollen es gar nicht loslassen. Wir stecken in einer Gewohnheitsfalle!

Gefangen in der Gewohnheitsfalle

Gewohnheiten haben stabilisierende Funktion für uns, indem wir sie ritualisierend ausüben: Händeschütteln, doppelter Wangenkuss und nicht selten eine Umarmung zur Begrüßung. Diese Gewohnheiten werden uns jetzt nicht nur entzogen, sondern mit der Forderung, Abstand zu halten, das genaue Gegenteil verlangt. Die Missachtung dieser Gesundheitsempfehlungen forciert den Teufelskreislauf der Ansteckungen, die wiederum in letzter Instanz die Mortalitätsrate erhöhen können. Diese Situation entzieht unsere Gewohnheiten mit Unsicherheit und Destabilisierung als Konsequenz – sowohl beim Einzelnen als auch in der Gesellschaft.

Jetzt sind „teachable moments“

Teachable moments sind gravierende Veränderungen, in denen tiefgreifende Gewohnheiten aufgebrochen und verändert werden müssen und können. Je schneller wir jetzt aus der Gewohnheitsfalle herauskommen, desto höher die Wahrscheinlichkeit auf ein Ende der Krise. Dann brauchen wir für den Neuaufbau wieder eins: Gewohnheiten. Und aus diesen Gewohnheiten – ob es die Alten sind oder Neue – bauen wir ein Fundament, für das Haus der Zukunft – weil wir „Gewohnheitstiere“ sind.

Was das heißt und was es jetzt braucht – erfahren Sie hier!

Fünf Maßnahmen, um aus der Gewohnheitsfalle zu kommen.

Eine Maßnahme mit einschneidendster Wirkung ist es natürlich, durch eine Ausgangssperre per Gesetz die liebgewonnenen Gewohnheiten zu brechen. Weitere – entweder alternative oder flankierende Maßnahmen können nun hilfreich sein:

1. Gesundheitskommunikation

Gesundheitskommunikation ist jetzt entscheidend und dann wirksam, wenn sie den Sinn ihrer Maßnahmen vermittelt, etwas zu tun oder zu lassen. Das kann auf einer rationalen Ebene passieren und helfen, dass gewünschte Verhaltensweisen initiiert werden. Emotionale

Botschaften helfen wiederum, dass die Verhaltensweise schneller akzeptiert und auch langfristig beibehalten werden. Entscheidende Merkmale sind also demnach:

  • Verständliche Sinn-Botschaften, abgestimmt nach Bildungsschichten und Altersgruppen: Was ist der Sinn für einen 16jährigen, sich an die Maßnahmen zu halten (z. B. die Großeltern schützen), was der Sinn für einen 48jährigen Manager (z. B. das Unternehmen am Leben halten) und eine 71jährige (z. B. überleben und noch viel Zeit mit der Familie und Enkeln haben).
  • Motivorientiert: Die Kommunikation muss die Gründe transportieren, weswegen man jetzt mithelfen, etwas tun oder lassen sollte.
  • Emotionale Kommunikation: Mehr positive Botschaften („dann können wir uns schneller wieder nah sein“) als Einsatz von Furchtappellen („dann werden wir krank und können sterben“)
  • Weniger ist mehr – den Informationsfluss kanalisieren: Wir brauchen Güte statt Masse. Dazu gehört auch, dass nicht irritierend kommuniziert wird. Einen besonderen Fokus braucht es im Umgang mit Fake News, u. a. durch Verankern offizieller, geprüfter Fakten.
  • Situative Kommunikation: Wir müssen die Lebensphasen der Krise beachten – wenn die Menschen gegen Unsicherheit und Existenzängste kämpfen, dann haben sie wenig Sinn und geistige Kapazitäten, sich mit der Zukunft zu beschäftigen. Wer Angst hat und sich von Risiken bedroht fühlt, hat keine Kapazitäten, sich mit den Chancen der Situation auseinanderzusetzen.

2. Alternative Gewohnheiten entwickeln

Wenn wir neue Gewohnheiten gegen Alte eintauschen, dann müssen wir erkennen, was uns alte Gewohnheiten für einen Nutzen gebracht haben – erst dann können wir neue und für uns akzeptable bis hin zu attraktiven Gewohnheiten entwickeln. Was sind die Gründe, dass wir noch raus gehen, uns mit Freunden treffen, Aktivitäten nachgehen? Der Mensch ist ein soziales Wesen – er will über das Miteinander den Austausch und Verbundenheit erfahren, sich angehörig fühlen, Teil einer Gemeinschaft sein. Es braucht also Lösungsansätze, wie diese Bedürfnisse in Zeiten der Corona-Krise befriedigt werden können: Digitale (Facetime, Skype, Nachrichtendienste) und analoge Austauschmöglichkeiten (Brief schreiben), Konzerte auf Balkonen in Italien oder „Bella Ciao“ in Deutschland, virtuelle flashmobs (z. B. Aktion „Wir bleiben für Euch hier. Bleibt bitte für uns daheim“) etc..

3. Wenn dann Pläne für falsche Gewohnheiten

Gewohnheiten haben stabilisierende Funktion für die Menschen. Einer dieser Gewohnheiten, die derzeit nicht nur falsch, sondern schädlich bis tödlich ist, ist es, sich zu nahe zu kommen. Wenn wir in unserem Kulturraum Menschen begegnen, reichen wir ihnen gewohnheitsmäßig genauso zur Begrüßung die Hand, küssen und umarmen uns, wie wenn wir in einen dunklen Raum gehen (auslösender Kontext), automatisch den Lichtschalter betätigen, ohne groß darüber nachzudenken.

Auch das „sich nah sein wollen“ aus dem menschlichen Motiv des Miteinanders, der Verbundenheit und des Sicherheitsbedürfnis, kann jetzt nicht wie gewohnt befriedigt

werden. Diese Alltagsrituale sind in der Krise erschüttert, da es genau da darum geht Abstand zu halten. Gefühlt hat das den umgekehrten Effekt und erzeugte eine destabilisierende Funktion. Die Missachtung der Gesundheitsempfehlungen forcierte den Teufelskreislauf an Ansteckungen, die wiederum die Mortalitätsrate erhöhte. Weitergedacht würde die damit einhergehende Trauer das Bedürfnis nach Nähe tatsächlich intensivieren und ausgelebt würde es die Infektionskette erneut entfachen und es dem Virus ermöglichen, sich exponentiell weiter auszubreiten. Ziel der Appelle bis hin zu den initiierten staatlichen Maßnahmen ist es, dieses geistige Muster und das Bedürfnis nach Nähe – temporär – zu unterbinden und sich auch ohne Hände schütteln, Küsschen links und rechts sowie die Umarmungen freundlich zu begegnen. Wenn man also jetzt jemanden begegnet, dann kann man ihm auch mit Abstand anlächeln, die Hände aneinander legen und sich leicht verbeugen (asiatische Begegnung), den Ellbogen- oder „Fußcheck“ machen etc.. Für die Befriedigung der Austausch- und Verbundenheitsmotive siehe Punkt 2 „Alternative Gewohnheiten entwickeln“.

4. Akzeptanz statt Reaktanz: Wir brauchen ein Jazum Virus

Hintergrund: Der Virus ist da und manche Prognose lautet, dass sich bis zu 70% der Deutschen anstecken werden – das Unvermeidliche ist das Eine, das Hinauszögern das Andere. Entsprechend brauchen wir ein „Ja“ zum Virus im Sinne von „keine Angst davor und positiv getestet zu sein“. „Einen Virus haben“ ist negativ mental besetzt, u. a. durch die emotional erlebte HIV-Entwicklung beginnend in den 1980er Jahren. Selbst einen Virus auf seinem PC zu haben, ist für viele schon ein Gefühl von Verseuchung. Kognitiv zu verstehen und mit Blick auf seine Familie und sein geschätztes Umfeld emotional mitzutragen, dass wir wiederum andere anstecken und damit mitverantwortlich sind, dass u. a. Risikogruppen noch mehr gefährdet sind. Die Bilder aus der Welt müssen genug sein, um uns jetzt zu disziplinieren und das wir jetzt unsere Gewohnheiten in den Griff bekommen. Dafür braucht es auch Vorbilder und so lange sich bekannte Menschen, u. a. auch führende Politiker – vom TV präsentiert – noch die Hände zur Begrüßung geben und keiner den Anfang macht, Schutzmasken zu tragen, so lange wird es schwer, selbst diese Maßnahmen umzusetzen.

5. Sensibel sein – Wenn ein Aufmerksamkeitsspot angeht entsteht ein Aufmerksamkeitsschatten

Die Welt dreht sich weiter und auf der Welt geschehen Dinge, die nun im Schatten der Aufmerksamkeit passieren (Flüchtlingskrise, Syrienkrieg etc.). Die Botschaft lautet: Passt auf, was im Schatten des derzeitigen Fokus passiert! Wenn ein Mensch, viele, eine Nation und ganze Ländergemeinschaft mit sich beschäftigt sind, dann entsteht ein Tunnelblick, in dem man weder Kraft noch Willen hat, sich um links und rechts zu kümmern und schon gar nicht: zurück auf die Ursachen und voraus in die Zukunftsgestaltung zu schauen. Die Corona-Krise provoziert starke Einschnitte – Einschnitte, die es laut der Bundeskanzlerin seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr gab. Was sonst beobachtet, wo zu anderen Zeiten diskutiert und interveniert wird, kann es derzeit zu einem quasi folgenlosen Geschehen kommen. Wir brauchen Menschen, die den Überblick bewahren und den berühmten Blick über den Tellerrand nicht verlieren. Diesen Überblick gilt es aber auch für die mittelfristige Folgen unseres derzeitigen Tuns zu bewahren, z. B. der Umgang mit der Digitalisierung.

Die Krise wird der Digitalisierung im Allgemeinen und digitalen Lösungen im Besonderen einen gewaltigen Schub bringen – um final arbeitsfähig zu bleiben, wird sich beispielsweise in einer überschallartigen Geschwindigkeit in virtuelle Möglichkeiten eingearbeitet und das Home Office nicht nur akzeptiert, sondern von Unternehmen unter Hochdruck eingerichtet. Die Vorteile virtueller Konferenzen & Co werden als Katalysator der Akzeptanz wirken: Keine Ansteckungsgefahr und eine deutliche Reduktion von Raum-Zeit-Überwindungskosten mit allen weiteren Effekten, die das mit sich bringt (u. a. Schonung der Umwelt und der eigenen Nerven etc.). Auch im Bildungssystem sind diese tektonischen Veränderungen spürbar und in ihrer aktuellen Durchführung damit auch zukunftsweisend: Es werden schnelle, digitale Unterrichtslösungen angeboten ohne Notwendigkeit physischer Anwesenheit.

Die Dramaturgie der Entwicklung nährt die Bereitschaft, Einschnitte mitzutragen und damit eine neue Gegenwart zu schaffen. Massenhaft werden Gesichtserkennungen aufgenommen, Speichelproben genommen und Fiebermessungen lenken unsere Bewegungen. Telefondaten werden in außergewöhnlichen Zeiten zur Bewegungserfassung weitergegeben und ausgewertet. Wie würde dieser Umgang mit persönlichen und sensiblen Daten in Nicht- Krisen-Zeiten diskutiert? Ist das nach der Krise alles umkehrbar oder wird das der neue Standard sein bei unreflektierter Übernahme möglicher Abhängigkeiten und Risiken?

Ein nahtloses Weiter so, wie es vor der Krise war, wird es nach der Krise nicht mehr geben – was weggefallen ist, muss neu aufgebaut werden und wird neu aufgebaut. Es wird die Zeit des Nach- und idealerweise Umdenkens: Was ist uns wichtig? Was wollen wir? Was wollen wir nicht (mehr)?

Die Fragen des „Wie“ werden kommen! Fragt sich nur: Wann beginnt das Wie?

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